Kursanatorium Fehrenbach

Meister der Tränen


Psychologe und Opernsänger, vor allem aber Trauerforscher. Jorgos Canacakis will helfen,
wenn die Seele dunkel und das Herz schwer wird. Sein Motto: Trauer ist keine Krankheit (WAZ Essen, 29. Juni 2007)

Von Jürgen Augstein

Gestern Zürich, heute Essen und in ein paar Tagen schon wieder auf dem Weg nach Athen: Dr. Jorgos Canacakis ist mit seinen 72 Jahren das beste Beispiel für das,was er in seinen Seminaren, Büchern und Expeditionen predigt: Lebendigkeit! Dabei beschäftigt er sich viel mit Tod und Sterben. Der Grieche mit deutschem Pass gehört zu den renommiertesten Trauerforschern der Republik.
„Ichwar ein trauriges Kind”, sagt der kleine Mann, der seit 50 Jahren im Ruhrgebiet lebt. Seine Mutter war im neunten Monat schwanger, als die Deutschen Griechenland bombardierten und er sich vor Angst in die Hose machte. Der sechsjährige Jorgos durfte aber nicht lange weinen, weil er den Mann in der Familie spielen musste. Heute spricht er von „Turbo-Kindern”, die zu früh Verantwortung übernehmen müssen.
Diese nicht ausgedrückte Trauer - ob nach einem Todesfall, dem Verlust des Jobs oder auch Trauer über nicht wirklich gelebtes Leben - schleppen seiner Ansicht nach viel zu viele Menschen mit sich herum. Canacakis: „Trauer ist keine Krankheit. Was wir brauchen, ist eine Entw icklung der Trauerfähigkeit.”
Deshalb sei es so w ichtig, Gefühle jeder Art vor Menschen und nicht im stillen Kämmerlein zu zeigen - ob Tränen, Zorn, Liebe oder Lachen. „Wenn diese Gefühle nicht ausgedrückt werden, - füttern wir die Depression.” Canacakis warnt vor einer Gesellschaft der emotionalen Pleite, die so manchen Amokläufer hervorbringe.
„Unausgedrückte Wut macht die Kultur depressiv oder aggressiv.” Der Essener ist selbst ein Meister des Ausdrucks, obwohl seine Bewegungen eher verhalten sind. 15 Jahre stand der ehemalige Opernsänger auf den bedeutenden Bühnen Europas. Hier durfte er weinen, selbst wenn er den Held spielte. Doch die innere Trauer kam immer w ieder hoch und so fing der Tenor mit 50 noch an, Psychologie zu studieren. Sein Wissen bezog er nicht nur aus Büchern und Vorlesungen. „Mein Sohn war mein bester Lehrer in Sachen Trauer.”
Niko (29) ist schwerstbehindert. Von Geburt an. „Er hat mir beigebracht, all das zu verabschieden, was nicht kommt”, sagt Canacakis. Das Wunschbild vom gesunden Kind wurde nicht erfüllt - weshalb er den Teilnehmern seiner Seminare auch rät: Verabschiedet eure Wunschbilder und fördert eure eigenen Ressourcen. „Ich freue mich, dass Niko atmet und noch lebt.”
Vor wenigen Wochen hat Canakakis, der an der Uni Essen den ersten Lehrauftrag für Trauer und Trauerverarbeitung hatte, sein Lebenswerk veröffentlicht: das Buch „Die Welt ist voll von halben Enten”. Das klingt nach Kinderlektüre zum Einschlafen. Doch die Erlebnisse der nicht ganz ausgebrüteten Ente Kalliopi sind vor allem für Erwachsene geschrieben.
Für Canakakis ist die Ente Symbol der Lebendigkeit und Eigenständigkeit. Die er bei vielen Menschen vermisst. Ein Beleg sind für ihn die vielen gescheiterten Beziehungen. Weil die Menschen nicht fähig zur Selbstliebe seien, zwängen sie andere dazu, sie zu lieben. So entstünden falsche Abhängigkeiten. Deshalb spricht Canacakis von „halben Enten” - Menschen, die woanders „andocken” und nicht allein sein können. Oder beispielsweise nicht in der Lage sind, das Altwerden zuzulassen. „Deshalb diese Anti-Aging-Welle.”
Der Querdenker aus Essen geht bei seinen Seminaren ungewöhnliche Wege. Um die nicht ausgedrückten Gefühle zuzulassen, lässt er die Teilnehmer auf „Wutberge” klettern. Canacakis wandelt auch auf den Spuren der alten Götter. „Orpheus stieg in die Unterwelt herab, um seine tote Frau zu holen.” Er sei unfähig gewesen, um sie zu trauern. Für Canakakis ein klarer Fall von „halber Ente”. Trauern heißt für ihn auch loszulassen. Wer gar nicht mehr aufhöre zu weinen, müsse erkennen: Hier weint das innere Kind.
Eine „Enten-Übung” hat der Wissenschaftler erst diese Woche vor hunderten Zuhörern, darunter Professoren, in der Uni-Klinik in Zürich absolviert. Die Aufgabewar ganz einfach: „Wir mussten alle, die uns ärgern, anquaken.”